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VG Karlsruhe, Beschluss vom 18.11.2022 Az. 19 K 3710/22

1. In Baden-Württemberg können sich Personen, die nach dem Gesetzentwurf des § 104 c AufenthG (BT-Drs. 20/3717) zu den Begünstigten des "Chancen-Aufenthaltsrechts" zählen werden, auf eine Verwaltungspraxis berufen, nach der die Abschiebung derzeit regelmäßig ausgesetzt wird.
2. Ein mit einer Ausweisung angeordnetes Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nach Tilgung der zugrunde liegenden Straftaten aus dem Bundeszentralregister aufzuheben (Anschluss an VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.11.2016 - 11 S 1656/16).
Abschiebung; Ausweisung; Einreise- und Aufenthaltsverbot; Chancen-Aufenthaltsrecht
GG Art. 3 Abs. 1 , AufenthG § 11 Abs. 4 S. 1 , AufenthG § 58 Abs. 1 , AufenthG § 60 a Abs. 1 , AufenthG § 60 a Abs. 2 S. 3 , VwGO § 123
VERWALTUNGSGERICHT KARLSRUHE
Beschluss
In der Verwaltungsrechtssache
XXX
- Antragsteller -
prozessbevollmächtigt:
XXX
gegen
Land Baden-Württemberg,
vertreten durch das Regierungspräsidium Karlsruhe,
Abteilung 8 - Asylrecht, Ausländer, Rückkehrmanagement, Spätaussiedler, Zentrale Bußgeldstelle, Lotterie- und Glücksspielrecht
Durlacher Allee 100, 76137 Karlsruhe, Az: XXX
- Antragsgegner -
wegen Aussetzung der Abschiebung,
hier: Antrag gem. § 123 VwGO
hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe - 19. Kammer - durch den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts XXX, den Richter am Verwaltungsgericht XXX und den Richter am Verwaltungsgericht XXX
am 18. November 2022
beschlossen:
1. Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, einstweilen von einer Abschiebung des Antragstellers nach Gambia abzusehen.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,- € festgesetzt.

Gründe:

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen seine Abschiebung nach Gambia.
Der im Jahr XXX geborene Antragsteller ist Staatsangehöriger Gambias. Nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 2013 stellte er einen Asylantrag. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 03.04.2017 abgelehnt und dem Antragsteller die Abschiebung nach Gambia angedroht. Die hiergegen gerichtete Klage wurde vom Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Urteil vom 28.05.2019 - A 11 K 5057/17 - rechtskräftig abgewiesen.
Mit Strafbefehlen des Amtsgerichts Hamburg-Altona vom 14.07.2016 und 02.06.2017 wurde der Antragsteller jeweils wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu Geldstrafen von 75 Tagessätzen (unter Einbeziehung vorheriger Verurteilungen) und 90 Tagessätzen verurteilt. Aufgrund der Verurteilungen verfügte das Landratsamt Karlsruhe mit Bescheid vom 05.12.2019 die Ausweisung des Antragstellers und ordnete der Sache nach ein auf drei Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an. Der Widerspruch des Antragstellers wurde mit Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 23.06.2020 zurückgewiesen, gegen den der Antragsteller keine Klage erhob. Im März 2020 legte der Antragsteller dem Landratsamt Karlsruhe seine Geburtsurkunde und im Dezember 2020 einen Reisepass Gambias vor.
Das Regierungspräsidium Karlsruhe forderte am 27.08.2022 einen aktuellen Auszug für den Antragsteller aus dem Bundeszentralregister an, der keine Eintragungen anzeigte. Am 25.10.2022 versuchte das Regierungspräsidium, den Antragsteller per Flug von Frankfurt am Main aus nach Gambia abzuschieben. Die Abschiebung wurde abgebrochen, nachdem sich der Antragsteller ihr widersetzte. Mit Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 26.10.2022 wurde der Antragsteller in Abschiebungshaft genommen.
Gegen die Abschiebung hat der Antragsteller am 25.10.2022 einen Eilantrag zum Verwaltungsgericht Karlsruhe gestellt. Zur Begründung lässt er vortragen: Da er sich seit mehr als fünf Jahren mit Aufenthaltsgestattung oder Duldung im Bundesgebiet aufhalte, werde er unter das geplante "Chancenaufenthaltsrecht" fallen. Andere Bundesländer hätten hierzu bereits für Menschen, die bereits jetzt diese Voraussetzungen erfüllten, einen Abschiebestopp erlassen. Auch die Landesregierung Baden-Württemberg habe am 11.10.2022 mitgeteilt, dass Menschen, die nach den neuen Regeln des Bundes voraussichtlich eine Bleibeperspektive in Deutschland hätten, ab sofort nicht mehr aus Baden-Württemberg abgeschoben würden. Dagegen verstoße seine Abschiebung. Seine früheren Straftaten könnten ihm aufgrund der Tilgung aus dem Bundeszentralregister nicht mehr entgegengehalten werden. Ein Ausweisungsinteresse bestehe daher nicht mehr. Zudem leide er unter erheblichen Magenbeschwerden, weshalb eine Abschiebung auch eine erhebliche Gesundheitsgefahr für ihn begründe.
Der Antragsteller beantragt sachdienlich gefasst,
dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung aufzugeben, einstweilen von einer Abschiebung nach Gambia abzusehen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führt er aus: Wie vom Antragsteller vorgetragen, habe das Land Baden-Württemberg eine Zurückstellung von Abschiebungen für Geduldete beschlossen, die voraussichtlich für die Erteilung des sog. "Chancen-Aufenthaltsrechts" in Betracht kämen ("Vorgriffserlass"). Dies sei beim Antragsteller jedoch nicht der Fall. Aufgrund des bestandskräftigen Einreise- und Aufenthaltsverbotes dürfe ihm nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Das Regierungspräsidium habe beim zuständigen Landratsamt Karlsruhe angefragt, ob angesichts der Tilgung der Straftaten aus dem Bundeszentralregister weiter an der Ausweisung und dem Einreise- und Aufenthaltsverbot festgehalten werde. Dies habe das Landratsamt bejaht.
Ergänzend trägt der Antragsteller vor: Die bestandskräftige Ausweisung des Antragstellers könne einer Anwendung des Vorgriffserlasses nicht entgegenstehen, da kein Bedürfnis für eine Ausweisung mehr bestehe. Er habe nunmehr beim Landratsamt Karlsruhe die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 4 AufenthG beantragt.
Der Antragsgegner hat auf Anfrage des Gerichts erklärt, einen schriftlichen Vorgriffserlass des Landes gebe es nicht. Jedoch sei das Regierungspräsidium vom Ministerium mündlich angewiesen worden, die in Frage kommenden Begünstigten des geplanten § 104 c AufenthG hinsichtlich ihrer Abschiebung zurückzustellen. Kriterien hierfür seien ein ununterbrochener Aufenthalt mit Aufenthaltsgestattung oder Duldung von über fünf Jahren im Bundesgebiet sowie das Nichtvorliegen von Straftaten im Sinne des Entwurfs des § 104 c AufenthG.
Dem Gericht liegt die Akte des Regierungspräsidiums Karlsruhe (ein Band) vor.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
1.
Der Antrag wird nach der gebotenen Auslegung (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) in der oben genannten Weise als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Aussetzung der Abschiebung verstanden. Eine gesonderte "Abschiebungsanordnung" des Antragsgegners, gegen die sich der Antrag in der wörtlichen Fassung auch richten soll, ist nicht ersichtlich. Ebenso ist nicht ersichtlich, dass die ebenfalls beantragte "Beendigung der Ausweisung", wohl gleichbedeutend mit der Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes, für das erkennbare Sachziel des Rechtsschutzes gegen die Abschiebung erforderlich ist, zumal der Antragsgegner hierfür nach § 9 Abs. 2 Satz 1 AAZuVO durch das Landratsamt Karlsruhe vertreten werden müsste und dies zu einer Vorwegnahme der Hauptsache führen würde.
2.
Nach § 123 Abs.1 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Sicherung eines bestehenden Zustandes treffen, soweit dies erforderlich ist, um die Vereitelung oder Beeinträchtigung eines Rechts des Antragstellers zu verhindern. Hierfür ist es erforderlich, dass der Antragsteller die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung, nämlich die besondere Eilbedürftigkeit, den so genannten Anordnungsgrund, und das Bestehen eines Rechts oder rechtlich geschützten Interesses, den so genannten Anordnungsanspruch, glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 ZPO).
3.
Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund, nämlich die bevorstehende Abschiebung nach Gambia, glaubhaft gemacht. Er ist nach bestandskräftiger Ablehnung seines Asylantrags vollziehbar ausreisepflichtig (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG). Auch nach dem Abbruch des ersten Abschiebungsversuchs ist die Abschiebung des Antragstellers nach Gambia weiterhin konkret geplant; zuletzt hat der Antragsgegner als neuen Termin den 30.11.2022 genannt.
4.
Der Antragsteller hat auch das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht.
Dem Antragsteller steht sehr wahrscheinlich ein Abwehranspruch gegen die beabsichtigte Abschiebung nach Gambia zu, da das Ermessen für eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG aufgrund der ständigen Verwaltungspraxis des Antragsgegners nach Art. 3 Abs. 1 GG zugunsten des Antragstellers auf Null reduziert ist.
a)
Die mündliche Anweisung des Ministeriums XXX an das Regierungspräsidium Karlsruhe ist Grundlage einer ständigen Verwaltungspraxis zur "Zurückstellung von Abschiebungen" und damit in rechtlicher Hinsicht zur Aussetzung von Abschiebungen im Sinne des § 60 a Abs. 2 AufenthG.
aa)
Auch wenn dem Gericht nur die Wiedergabe der Anweisung durch den Vertreter des Antragsgegners und damit nicht die Anweisung durch das Ministerium bekannt ist, steht fest, dass es sich insoweit nicht um eine Entscheidung des Ministeriums im Sinne des § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG handelt. Ein solcher Abschiebestopp-Erlass, der keine unmittelbaren Rechte der Ausländer selbst begründen kann (zu § 54 AuslG 1990: BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 [327]), aber Grundlage für einen aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitenden Anspruch auf Gleichbehandlung nach Maßgabe der tatsächlichen Anwendung der ministerialen Anordnung ist (zu § 32 AuslG 1990: BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63 [67]), müsste nämlich, um Wirksamkeit beanspruchen zu können, in einer für Verwaltungsvorschriften üblichen Art und Weise veröffentlicht werden (Hess. VGH, Beschl. v. 27.07.1995 - 12 TG 2342/95 - NVwZ-Beil. 1995, 67 [71]; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 13.07.1994 - 17 B 2836/93 - NVwZ 1995, 818 [819]; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: Februar 2021, § 60 a AufenthG Rn. 27; vgl. dazu auch Gerhardt, NJW 1989, 2233 [2239]) und damit zumindest also in Textform verfasst sein.
bb)
Vielmehr handelt es sich bei der mündlichen Anweisung des zuständigen Ministeriums um eine ermessenslenkende Vorgabe im Rahmen des § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Nach dieser Vorschrift kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Mit der Ermessensduldung soll vollziehbar ausreisepflichtigen Personen im Ermessenswege ein vorübergehender Aufenthalt ermöglicht werden können, wenn der vorübergehende Aufenthalt zwar aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen oder erheblichen öffentlichen Interessen erforderlich ist, sich der Aufenthaltszweck jedoch nicht zu einem rechtlichen Abschiebungshindernis nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG verdichtet hat und tatsächliche Abschiebungshindernisse nicht vorliegen (BT-Drs. 16/5065, S. 187). Der Gesetzgeber hatte dabei die Konstellation, in der eine absehbare Gesetzesänderung, an deren Zustandekommen im bereits eingeleiteten Gesetzgebungsverfahren keine vernünftigen Zweifel bestehen, zwar nicht in den Blick genommen. Vor allem geht es um solche Gründe, die einen weiteren (kurzfristigen) Aufenthalt nicht schon von Verfassungs wegen erfordern (Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: Februar 2021, § 60 a AufenthG Rn. 338). Indes ist der Tatbestand der erheblichen öffentlichen Interessen und auch der dringenden persönlichen Gründe wohl auch mit Blick auf den zu erwartenden Gesetzesbeschluss eines Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts (BT-Drs. 20/3717) erfüllt. Denn der im Gesetzgebungsverfahren befindliche Entwurf, mit dem "Menschen, die über die lange Aufenthaltszeit ihr Lebensumfeld in Deutschland gefunden haben, eine aufenthaltsrechtliche Perspektive eröffnet und eine Chance eingeräumt werden soll, die notwendigen Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt zu erlangen" (BT-Drs 20/3717, S. 1), stellt nicht nur auf die Lebensplanung der langjährig in Deutschland aufhältigen Menschen ab, sondern nimmt auch die Erforderlichkeit von Einwanderung für den deutschen Arbeitsmarkt und damit erhebliche öffentliche Interessen in den Blick (siehe BT-Drs 20/3717, S. 15). Es entspricht auch der Praxis anderer Bundesländer, entsprechende Regelungen auf § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu stützen (vgl. Vorgriffsregelung des Ministeriums für Familie, Frauen, Kultur und Integration Rheinland-Pfalz vom 15.07.2022 - 3321- 0001#2021/0048-0701 725.0017; abrufbar unter https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/downloads/Themen_a-Z/Aufenthalt/2022_07_15_-_RLP_-_Rundschreiben_Vorgriffsregelung_ChancenAufenthaltsrecht.pdf [letzter Zugriff 18.11.2022]; Anweisung des Hessischen Ministeriums des Inneren und für Sport vom 19.07.2022 - LPP 6-23 d02.03-02-22/004; abrufbar unter https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/downloads/Themen_a-Z/Aufenthalt/2022-07-19_Vorgriffserlass_Chancen-Aufenthaltsrecht.pdf [letzter Zugriff 18.11.2022]).
b)
Der Antragsteller kann sich zur Abwehr seiner Abschiebung auf diese ermessenslenkende Vorgabe berufen, da sie in seinem Fall die Aussetzung der Abschiebung vorsieht.
aa)
Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG kann einen Betroffenen einer staatlichen Eingriffsmaßnahme, die im Ermessen der Behörde steht, zur Abwehr berechtigen, wenn die Ermessensausübung im seinen Fall einer ständigen Verwaltungspraxis der Behörde und damit einer Selbstbindung der Verwaltung widerspricht (vgl. Nußberger, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 118; Schönenbroicher, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 40 Rn. 144 ff.). Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt vorliegend, dass der Antragsgegner das Ermessen hinsichtlich einer Aussetzung nach § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG entsprechend der Vorgabe auszuüben hat und damit nur eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers in Betracht kommt.
Die Berufung des Antragstellers auf die Verwaltungspraxis ist nicht wegen ihrer Rechtswidrigkeit ausgeschlossen (vgl. hierzu Schönenbroicher, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 40 Rn. 144 - "keine Gleichbehandlung im Unrecht"). Zwar steht die Durchführung der Abschiebung nicht im Ermessen der zuständigen Behörde (vgl. § 58 Abs. 1 AufenthG). Allerdings kann sie nach § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG die Abschiebung im Ermessenswege vorübergehend aussetzen. Es mag fraglich sein, ob die Anwendung des § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG auf eine große, nach abstrakten Merkmalen bestimmte Ausländergruppe nicht durch § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gesperrt ist. Indes wirft dies ebenso wie die sich anschließende Frage, ob nämlich ein solcher Verstoß tatsächlich dazu führen würde, dass sich der Antragsteller auf die dann objektiv rechtswidrige Verwaltungspraxis nicht berufen könnte, Probleme auf, die allein in einer Hauptsacheentscheidung beantwortet werden können.
bb)
Die vom Regierungspräsidium vorrangig benannten Kriterien der Aufenthaltsdauer und der Straffreiheit sind im Fall des Antragstellers erfüllt.
Der Antragsteller hat sich während seines Asylverfahrens von 2013 bis 2019 durchgängig mit einer Aufenthaltsgestattung und im Anschluss bis zum in § 104 c Abs. 1 Satz 1 AufenthG-E genannten Stichtag 01.01.2022 mit einer Duldung in Deutschland aufgehalten, was den Mindestzeitraum von fünf Jahren übertrifft.
Auch seine früher begangenen Straftaten und die daraus resultierenden Verurteilungen stehen einem absehbaren Anspruch nach § 104 c AufenthG-E nicht entgegen, da diese aufgrund der zwischenzeitlichen Tilgung im Juli 2022 dem Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG unterfallen und damit dem Antragsteller im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden dürfen. Die differenzierten Tilgungsfristen nach § 46 BZRG werden dem - vorliegend ausweislich der Strafhöhe eher geringen - Schuldgehalt der begangenen Straftaten gerecht. Eine ausnahmsweise weitere Berücksichtigung getilgter Straftaten im Sinne des § 52 Abs. 1 Nr. 5 BZRG ist aus dem Gesetzentwurf zu § 104 c AufenthG nicht ersichtlich.
cc)
Nichts Anderes ergibt sich entgegen der Ansicht des Antragsgegners aus der bestandskräftigen Ausweisung des Antragstellers durch das Landratsamt Karlsruhe vom 05.12.2019.
Zwar kann die Ausweisung aufgrund des zugleich verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegenstehen. Jedoch ist auch insoweit zu berücksichtigen, dass die der Ausweisung zugrunde liegenden Straftaten dem Antragsteller nicht mehr entgegen gehalten werden dürfen und das frühere Ausweisungsinteresse damit weggefallen ist. Aufgrund des Zweckwegfalls dürfte dem Antragsteller damit ein Anspruch auf Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes zustehen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.11.2016 - 11 S 1656/16 - juris, Rn. 30; Beschl. v. 25.01.2021 - 12 S 2894/20 - juris, Rn. 11; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 11 AufenthG Rn. 84).
Soweit der Antragsgegner darauf abstellt, dass nach § 11 Abs. 4 Satz 3 AufenthG bei der Entscheidung über die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu berücksichtigen sei, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, ist bereits fraglich, ob diese Norm für das vom Landratsamt Karlsruhe verfügte Verbot zum Tragen kommt, nachdem mit der Ausweisungsverfügung keine Abschiebungsandrohung und also auch keine Ausreisefrist verfügt worden ist. Indes kann dies aus zwei Gründen offen bleiben. Zum einen ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit einer Wiederholungsgefahr hinsichtlich der vom Antragsteller begangenen Straftaten begründet worden, die ihm nach § 51 Abs. 1 BZRG gerade nicht mehr vorgehalten werden dürfen. Zum anderen übersieht der Antragsgegner die Regelung des § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Danach besteht ein "Soll-Aufhebungsanspruch", wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Als solcher Aufenthaltstitel soll nach dem Gesetzentwurf derjenige nach § 104 c AufenthG gelten, § 104 c Abs. 2 Satz 2 AufenthG-E.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass die vorliegende Konstellation mit einer bestandskräftigen Ausweisung aufgrund bereits getilgter Straftaten generell aus dem Anwendungsbereich der ermessenslenkenden Vorgabe ausgenommen werden sollte. Vielmehr zeigt der vorgelegte E-Mail-Verkehr, dass es sich bei der Entscheidung, an der Abschiebung des Antragstellers festzuhalten, um eine Betrachtung des Einzelfalls handelte. Eine solche Eingrenzung der Praxis wäre rechtlich auch nicht haltbar, da eine Prognose, dass die betroffenen Personen aufgrund der bestandskräftigen Ausweisung nicht unter das "Chancen-Aufenthaltsrecht" nach § 104 c AufenthG-E fallen werden, aufgrund der - wie ausgeführt - erfolgversprechenden Möglichkeit des Antrags auf Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht sachgerecht wäre.
dd)
Auch die in § 104 c Abs. 1 Satz 1 AufenthG-E ebenfalls vorgesehene Voraussetzung der gegenwärtigen Duldung kann dem Antragsteller nicht entgegengehalten werden. Eine entsprechende Prognose, dass der Antragsteller nach der vorgesehenen Einführung des § 104 c AufenthG nicht über eine Duldung verfügen wird, ist derzeit nicht tragfähig. Zwar ist die ihm zuletzt ausgestellte Duldung vom 15.06.2022 äußerlich mit der Bekanntgabe des Abschiebungstermins zum 25.10.2022 erloschen. Jedoch dürfte dies aufgrund der Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Abschiebung unbeachtlich sein, da zu diesem Zeitpunkt die Verwaltungspraxis des Regierungspräsidiums bereits bestand und die Straftaten des Antragstellers ausweislich des letzten Auszugs aus dem Bundeszentralregister vom 27.08.2022 getilgt waren.
ee)
Anhaltspunkte dafür, dass weitere Voraussetzungen des § 104 c AufenthG-E im Fall des Antragstellers nicht erfüllt sein könnten, sind nicht ersichtlich. Soweit in § 104 c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG-E ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung vorgesehen ist, werden auch vom Antragsgegner keine entgegenstehenden Anhaltspunkte in Bezug auf den Antragsteller vorgetragen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus den §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Nrn. 1.5 Satz 2 sowie 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der zuletzt beschlossenen Änderung vom 18.07.2013.
Hinweise:
Rechtskraft: nein