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VG Freiburg, Urteil vom 28.07.2021 Az. A 1 K 6994/18

Hatte der Ausländer in seinem Herkunftsland noch nie einen Lebensmittelpunkt begründet, lässt sich eine "Herkunftsregion" als Ausgangspunkt für die Prüfung, ob ihm in seinem Herkunftsland Verfolgung droht, nicht bestimmen.
Handelt es sich um ein minderjähriges Kind, das mit mindestens einem Sorgeberechtigten in familiärer Gemeinschaft lebt, der die gleiche Staatsangehörigkeit besitzt, ist wie auch sonst bei der Gefahrenprognose bei der Bestimmung ihres geographischen Anknüpfungspunkts aufgrund realitätsnaher sowie durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vorgegebener normativer Betrachtung im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverband in das Herkunftsland zurückkehrt.
In einem solchen Fall ist darauf abzustellen, welche Herkunftsregion für den oder die das Kind begleitenden Sorgeberechtigten maßgeblich wäre.
Verfolgungsprognose; geographischer Anknüpfungspunkt; Heimatregion; Familienverband
AsylG § 3
VERWALTUNGSGERICHT FREIBURG
Im Namen des Volkes
Urteil
In der Verwaltungsrechtssache
wegen Asyl
hat das Verwaltungsgericht Freiburg - 1. Kammer - auf die mündliche Verhandlung
vom 28. Juli 2021
für R e c h t erkannt:
Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass für die Klägerin ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG betreffend Nigeria vorliegt. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29.11.2018 wird hinsichtlich der Ziffern 4 bis 6 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Klägerin zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.

Tatbestand:

Die Eltern der Klägerin, die Klägerin zu 1) im Verfahren A 1 K 6993/18 und der Kläger im Verfahren A 1 K 5298/18, reisten im Herbst 2014 zusammen in die Bundesrepublik ein. Ausweislich der von ihnen vorgelegten Geburtsurkunden vom 26.05.2015 sind beide in Benin City (Nigeria) geboren worden. Diese Dokumente beruhen auf den Angaben des Großvaters väterlicherseits und der Großmutter mütterlicherseits, die diese am selben Tag vor dem gleichen Gericht gemacht haben sollen (AS 89 ff. BAMF-Akte). Die Asylanträge der Eltern wurden am 13.01.2015 förmlich aufgenommen. Am 09.03.2015 wurde die Klägerin, am 26.05.2016 und am 25.07.2018 wurden ihre Brüder, der Kläger zu 2) im Verfahren A 1 K 6993/18 und der Kläger im Verfahren A 1 K 7107/18, geboren.
Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 13.07.2017 gab die Mutter der Klägerin im Wesentlichen an, sie habe vor ihrer Ausreise in einem Stadtteil von Benin City gewohnt. Sie sei zu einer fremden Frau gegeben worden, die sie schlecht behandelt habe. Eines Tages sei sie von einer Frau namens Joy angesprochen worden, die ihr in Aussicht gestellt habe, sie könne in Italien zur Schule gehen. 2008 habe sie Nigeria verlasen. In Italien angekommen, habe die Frau von ihr 45.000 Euro für die Reise verlangt. Mit Hilfe einer Freundin habe sie im Jahr 2010 nach Neapel fliehen können. Dort habe sie auf der Straße gelebt und gebettelt. Joy habe sie auf ihrem Handy angerufen und bedroht. Weiter gab sie an, im Falle einer Rückkehr nach Nigeria würden ihre Familie und die ihres Mannes sie dazu zwingen, an der Klägerin eine Genitalverstümmelung vornehmen zu lassen. Dies entspreche der Tradition; sie hätten keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren.
Der Vater der Klägerin gab an, er habe Nigeria verlassen, weil ihn sein Onkel, bei dem er aufgewachsen sei, schlecht behandelt habe. Im weiteren Verlauf der Anhörung gab er an, er sei im Jahr 2008 geflohen, um sich den Anhängern eines Kultes zu entziehen, die ihn als ältesten Sohn seines 2006 verstorbenen Vaters zu dessen Nachfolger machen wollten. Er habe vor ihnen Angst und vor den Schleusern, die ihn über Libyen nach Italien gebracht hätten. Diese verlangten noch Geld von ihm. Mit Blick auf die Klägerin gab auch er an, dass er eine Genitalverstümmelung ablehne, aber befürchten müsse, dass sie von der Familie durchgeführt werden würde.
Mit Bescheid vom 29.11.2018, zur Post gegeben am 03.12.2018, lehnte das Bundesamt den gemäß § 14 a AsylG als gestellt geltenden Asylantrag der Klägerin ab (Ziffern 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen (Ziffer 4), setzte ihr eine Ausreisefrist von dreißig Tagen und drohte ihr die Abschiebung nach Nigeria an (Ziffer 5). Das "gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot" befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
Die Klägerin hat 18.12.2018 Klage erhoben, die sie nicht begründet hat.
Sie beantragt,
die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen,
weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein nationales Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG) mit Blick auf Nigeria vorliegt,
und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29.11.2018 - mit Ausnahme von Ziffer 2 - aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf den angegriffenen Bescheid.
Mit Beschluss der Kammer vom 06.12.2018 wurde der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Die Mutter der Klägerin hat im weiteren Verlauf des Verfahrens Atteste vorgelegt, aus denen hervorgeht, dass bei ihr eine Genitalverstümmelung Typ 1, durchgeführt worden ist, bei der Klägerin jedoch nicht.
In der mündlichen Verhandlung sind die Verfahren der Familie zur gemeinsamen Verhandlung verbunden und die Eltern der Klägerin informatorisch angehört worden. Wegen des Ergebnisses wird auf die Niederschrift verwiesen.
Auf die Gerichtsakten und die Akten des Bundesamts in diesem Verfahren sowie in den Verfahren A 1 K 5298/18, A 1 K 6993/18 und A 1 K 7107/18 wird wegen der Einzelheiten ergänzend Bezug genommen. Diese Akten liegen ebenso wie die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel dieser Entscheidung zugrunde.

Entscheidungsgründe:

Der Einzelrichter durfte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war, da sie in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage hat nur teilweise Erfolg.
Die Klägerin hat weder Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (1.) noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes (2.). Deshalb ist der Bescheid des Bundesamtes hinsichtlich der Ziffern 1 und 3 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Anders liegt dies hinsichtlich der Ziffern 4, 5 und 6. Denn die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf die Feststellung, dass hinsichtlich Nigeria ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK vorliegt (3.). Deshalb kann weder die Abschiebungsandrohung noch der Ausspruch zum Einreise- und Aufenthaltsverbot bestand haben (4.).
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung.
a) Nach § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Furcht vor Verfolgung ist dann begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 22.12 -, juris).
Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen § 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des "tatsächlichen Zielortes der Rückkehr" im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 4, 15 Richtlinie 2004/83/EG (Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 -, juris, Rn. 40), die auf die Nachfolgerichtlinie 2011/95/EU übertragbar ist, ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Vielmehr kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer aufgrund der geltend gemachten Verfolgung den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen derselben sind, ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose aus (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, Rn. 68; Wittmann, in: BeckOK Migrations- und IntegrationsR, 8. Edition Mai 2021, § 3 AsylG Rn. 37, jeweils m.w.N.).
Hatte der Ausländer in seinem Herkunftsland allerdings keinen Lebensmittelpunkt im vorstehenden Sinne begründet, lässt sich eine Herkunftsregion nicht ohne Weiteres bestimmen. Handelt es sich um ein minderjähriges Kind, das mit mindestens einem Sorgeberechtigten in familiärer Gemeinschaft lebt, der die gleiche Staatsangehörigkeit besitzt, ist wie auch sonst bei der Gefahrenprognose (vgl. hierzu mit eingehender Begründung BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 16 ff.; grundlegend BVerwG, Urteil vom 08.09.1992 - 9 C 8.91 -, juris, Rn. 13 ff.) bei der Bestimmung ihres geographischen Anknüpfungspunkts aufgrund realitätsnaher sowie durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vorgegebener normativer Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverband in das Herkunftsland zurückkehrt. In einem solchen Fall ist darauf abzustellen, welche Herkunftsregion für den oder die das Kind begleitenden Sorgeberechtigten maßgeblich wäre.
b) Hiernach liegen die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung nicht vor.
Der Klägerin kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihr bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, nicht die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) zugute. Nach dieser Vorschrift ist die Tatsache, dass ein Schutzsuchender bereits verfolgt wurde bzw. von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen. Die Klägerin kam erst in Deutschland zur Welt und ist somit nicht vorverfolgt aus Nigeria ausgereist. Vor diesem Hintergrund läge eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung nur vor, wenn der Klägerin bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohte, so dass ihr nicht zuzumuten wäre, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der konkreten Lage der Klägerin Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden könnte. Gemessen an diesen Grundsätzen droht der Klägerin eine Genitalverstümmelung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
Dabei ist davon auszugehen, dass sich die erst sechsjährige Klägerin zusammen mit ihren Eltern, mit denen sie in Deutschland in familiärer Gemeinschaft lebt, nach Benin City begeben würde, dem jeweils letzten Aufenthaltsort ihrer Eltern in Nigeria. Der Umstand, dass ihr Vater angegeben hat, seine Mutter habe einen anderen Mann geheiratet und sei weggezogen, und auch seine Geschwister lebten in einem Dorf, das drei- bis vier Autostunden von Benin City entfernt sei, führt nicht dazu, dass einer dieser Orte, von denen unklar ist, ob er sich jemals dort aufgehalten hat, zu seinem Lebensmittelpunkt geworden wäre. Es kommt gerade nicht darauf an, ob sich ein unbeteiligter Betrachter an seiner Stelle dafür entscheiden würde, dort seinen Aufenthalt zu nehmen, um sich die Unterstützung seiner Familie zu sichern. Die Mutter der Klägerin hat erklärt, nichts über den Verbleib ihrer Verwandten zu wissen.
Zwar würde eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende weibliche Genitalverstümmelung eine gemäß § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht darstellen. Das Gericht ist aber nicht davon überzeugt, dass die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, bei einer unterstellten Wohnsitznahme in Benin City einer Genitalverstümmelung unterzogen zu werden.
Denn nach den Angaben ihrer Eltern ist davon auszugehen, dass diese dort keine Verwandten mehr haben, auf deren Unterstützung sie zurückgreifen könnten. Damit besteht aber zugleich keine Gefahr, dass diese auf sie Druck ausüben könnten - etwa gleichsam als Gegenleistung für die geleistete Unterstützung - die Tradition der Genitalverstümmelung fortzusetzen. Unabhängig davon, ob der nigerianische Staat genug unternimmt, um die Genitalverstümmelung zu unterbinden, geht die Initiative dazu nämlich stets von Privaten, in der Regel von der Familie der Mädchen, aus. Die Mutter der Klägerin und auch ihr Vater haben glaubhaft und überzeugend dargelegt, dass sie die Genitalverstümmelung ablehnen. Grundsätzlich haben die Eltern in Nigeria einen maßgeblichen Einfluss bei der Entscheidung, ob ihre Töchter der Genitalverstümmelung unterzogen werden. Wenn der Vater die Mutter bei ihrer Weigerung, das gemeinsame Kind verstümmeln zu lassen, unterstützt, dann können die Eltern dies auch verhindern (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Länderinformation der Staatendokumentation, Nigeria, Stand: 23.11.2020, S. 52). Obwohl die Familie manchmal Druck auf die Eltern ausübt, hat es für diese heute in der Regel keine Konsequenzen, wenn sie sich weigern, ihre Töchter der Genitalverstümmelung zu unterziehen (EASO, Country Guidance Nigeria, Stand: Februar 2019, S. 63).
Nichts andere folgt aus der Überlegung, dass in Benin City der Lebensunterhalt der Familie nicht gesichert wäre (hierzu unter 3.) und sich ihre Eltern deshalb genötigt sehen könnten, bei ihren Verwandten Zuflucht zu suchen. Dass ihre Eltern die Klägerin auf diese Weise der Gefahr einer Genitalverstümmelung aussetzen würden, erscheint ausgeschlossen: Zum einen wäre nach ihren Angaben auch bei ihren Verwandten der Lebensunterhalt nicht gesichert, so dass bereits kein Anlass für diesen Schritt bestünde. Zum anderen haben sie in der mündlichen Verhandlung eindringlich und unter Hinweis auf die negativen Konsequenzen, wie sie die Mutter der Klägerin erfahre, betont, dass sie eine Genitalverstümmelung bei ihr unbedingt vermeiden wollen.
2. Dass die Klägerin keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus hat, hat das Bundesamt im angefochtenen Bescheid bereits im Einzelnen im Ausgangspunkt zutreffend dargelegt. Hierauf wird gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen. Auch das Vorbringen der Eltern der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gibt keinen Anlass zu einer anderweitigen Entscheidung. Ihre Angaben sind unglaubhaft, was die von ihnen behauptete Verfolgung und Gefährdung anbelangt (vgl. wegen der Einzelheiten die Urteile vom heutigen Tage in den Verfahren A 1 K 5298/18 und A 1 K 6993/18). Für die Klägerin sind keine weitergehenden individuellen Gefährdungsmomente benannt worden.
3. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf.
a) Um ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK zu begründen, müssen die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) erreichen. Dies kann der Fall sein, wenn er seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist danach relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab (BVerwG, Beschluss vom 21.08.2018 - 1 B 40.18 -, juris, Rn. 7, jeweils m.w.N. zur Rspr. des EGMR und auch des sich an diesem orientierenden EuGH). Im Rahmen der anzustellenden Gesamtschau können neben der Möglichkeit, eine Unterkunft zu finden, insbesondere auch andere Faktoren von Bedeutung sein wie der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen (vgl. hierzu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, Rn. 172 f. m.w.N.). Schließlich ist naturgemäß in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz, inwiefern Rückkehrer auf den Rückhalt im Herkunftsland verbliebener Familienmitglieder zurückgreifen können (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2019 - A 9 S 1566/18 -, juris, Rn. 30).
Bei familiärer Lebensgemeinschaft ist für jedes Familienmitglied gesondert zu prüfen, ob ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt. Für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren ist - wie bereits ausgeführt, im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt. Denn die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr - grundrechtlich geschütztes - familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden In dieser Situation befinden sich die Klägerin, ihre Eltern und ihre beiden Brüder, die in familiärer Lebens- und Erziehungsgemeinschaft leben. Vor diesem Hintergrund sind bei der vorzunehmenden Gefahrenprognose die aus Art. 6 GG folgenden Unterhalts- und Unterstützungspflichten zu berücksichtigen, die in der konkret zu erwartenden Rückkehrsituation die einzelnen Familienmitglieder treffen und deren Erfüllung sich - positiv wie negativ - auf den gesamten Familienverband auswirkt (z.B. Anforderung an "familientaugliche" Unterkunftsverhältnisse, Versorgungsprobleme, geringere räumliche Flexibilität). Bei der Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, steht dieses vor der Alternative, entweder unter Verletzung seiner Familienpflichten zunächst vollständig seine eigene Existenz (hinreichend) zu sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf zu nehmen, oder unter dem Eindruck der in ihrer Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung der eigenen Existenz durch Unterstützung seiner Familienangehörigen auch dann zu verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder der Freiheit der eigenen Person führt. Entscheidet er sich für Letzteres, handelt es sich nicht um eine "freiwillige Selbstgefährdung", die eine "außergewöhnliche Notlage" im Sinne des Art. 3 EMRK ausschließt. Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK schützen jedenfalls normativ die - für die Rückkehrprognose naheliegende - Entscheidung eines Elternteils, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage herbeigeführt wird. Die Unterschreitung auch des eigenen Existenzminimums, die in der Familiensituation aus der existenziellen Notlage für jedes einzelne Familienmitglied folgt, ist dann auch nicht eine bloß mittelbare Gefährdungssteigerung aus den "Versorgungslasten" für nahe Familienangehörige; sie bewirkt auch nicht, dass lediglich das Schutzbedürfnis eines nahen Familienangehörigen zu einer eigenen Rechtsposition des Ausländers führt (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 27). Ist im Ergebnis dieser Prüfung für die Rückkehrprognose auf die der gesamten Kernfamilie drohenden Gefahren abzustellen, kann dies in extremen Mangelsituationen zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes für alle Mitglieder der Kernfamilie führen (Berlit, jurisPR-BVerwG 24/2019 Anm. 5).
b) Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen der Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK vor.
aa) Nach der derzeitigen Erkenntnislage ist die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage für die Mehrheit der Bevölkerung in Nigeria problematisch (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 05.12.2020; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Länderinformation der Staatendokumentation, Nigeria, Stand: 23.11.2020; Bertelsmann Stiftung, BTI 2018, Nigeria Country Report, abrufbar unter http://www.bti-project.org/de/berichte/laenderberichte/detail/itc/nga/; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria, 27.03.2015). So leben in Nigeria die weltweit meisten Menschen unter der Armutsgrenze. 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt. Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent - in erster Linie unter 30-jährige - mit großen regionalen Unterschieden. Der größte Teil der Bevölkerung lebt im Wesentlichen als Bauer, Landarbeiter, oder Tagelöhner vom informellen Handel sowie von (Subsistenz-)Landwirtschaft. Viele Menschen haben keinen Zugang zum Gesundheitssystem oder zu Wasser und Strom. Ein staatlich organisiertes Hilfsnetz für Mittellose existiert nicht. Die Bedeutung der erweiterten Verwandtschaft ist nach wie vor groß. Es kann mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, an dem keine Mitglieder ihrer Familie bzw. ihrer erweiterten Verwandtschaft oder der Dorfgemeinschaft leben. Angesichts der anhaltend schwierigen Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen in der nigerianischen Gesellschaft ist es für viele Menschen schwer, an Orten ohne ein bestehendes soziales Netz erfolgreich Fuß zu fassen.
Belastbare Annahmen dafür, dass die Existenzsicherung, die in Nigeria häufig informell bzw. über Selbstversorgung erfolgt, grundsätzlich gefährdet sein könnte, liegen derzeit indes nicht vor. Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige. Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen. Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird. Die schlechten Lebensbedingungen in Nigeria an sich führen daher nicht dazu, dass Abschiebungen von alleinstehenden Frauen - auch mit minderjährigen Kindern - wegen eines Verstoßes gegen § 60 Abs. 5 i. V. m. Art. 3 EMRK stets unzulässig sind.
bb) Das Gericht hat jedoch die Überzeugung gewonnen, dass bei der Klägerin aufgrund ihrer individuellen Voraussetzungen und konkreten Lebenssituation weitere Risikofaktoren vorliegen. Die ohnehin schwierige Situation in Nigeria spitzt sich dadurch für sie derart zu, dass die Voraussetzung für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK vorliegen.
Zwar ist nach dem Vorstehenden davon auszugehen, dass der Vater der Klägerin in der Lage wäre, sich zu ernähren und auch einen Teil zur Versorgung der gemeinsamen Kinder beizutragen; womöglich könnte er unter normalen Umständen sogar die Versorgung der Familie allein sicherstellen. Doch selbst wenn man hiervon und zudem davon ausgehen wollte, dass die Verwandten der Familie doch in gewissem Umfang Unterstützung würden zuteilwerden lassen, genügt dies nicht, um sowohl den Lebensunterhalt einer fünfköpfigen Familie als auch die Behandlungskosten für die Mutter der Klägerin sicherzustellen. Diese leidet an einer schweren psychischen Störung, aus dem Formenkreis der Schizophrenie bzw. der schizoaffektiven Störung, die einer dauernden medikamentösen Behandlung mit Psychopharmaka bedarf. Eine solche ist in Nigeria zwar grundsätzlich erhältlich, aber mit erheblichen Kosten verbunden, die die Familie - auch bei Unterstützung durch Verwandte - nicht würde tragen können (vgl. wegen der Einzelheiten das Urteil vom heutigen Tage im Verfahren A 1 K 6993/18). Damit sind die Ressourcen der Familie insgesamt nicht ausreichend, um das Existenzminimum sicherzustellen.
4. Hat das Bundesamt das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes für die Klägerin festzustellen, können die Abschiebungsandrohung und der Ausspruch über das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffern 5 und 6 des angefochtenen Bescheides keinen Bestand haben (vgl. §§ 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG, § 75 Nr. 12 AufenthG; näher BVerwG, Urteile vom 14.12.2016 - 1 C 4.16 -, BVerwGE 157, 18, juris, Rn. 21, sowie vom 25.07.2017 - 1 C 10.17 -, juris, Rn. 23) und unterliegen der Aufhebung, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei.
Hinweise:
Rechtskraft: Nein