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LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.01.2020 Az. 4 Sa 19/19

1. Bestreitet eine Partei den Vortrag des Gegners mit Nichtmehrwissen, ist dies nur beachtlich, wenn sie die tatsächlichen Umstände, auf die das Nichtmehrwissen gestützt wird, überprüfbar und glaubhaft darlegt.
2. Einzelfallentscheidung zu einer außerordentlichen Kündigung wegen rassistischer Äußerungen.
Außerordentliche Kündigung wegen rassistischer Äußerungen; Bestreiten mit Nichtmehrwissen
BGB § 626 Abs. 1 , ZPO § 138 Abs. 3 , ZPO § 138 Abs. 4
ArbG Stuttgart 07.02.2019 11 Ca 3494/18
In der Rechtssache
- Beklagte/Berufungsklägerin -
Proz.-Bev.:
gegen
- Kläger/Berufungsbeklagter -
Proz.-Bev.:
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 4. Kammer - durch den Vorsitzenden
Richter am Landesarbeitsgericht Stöbe, den ehrenamtlichen Richter Bößler und den ehrenamtlichen Richter Fischer auf die mündliche Verhandlung vom 15.01.2020
für Recht erkannt:

Tenor

1.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 07.02.2019 (11 Ca 3494/18) wird zurückgewiesen.
2.
Die Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.
3.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen außerordentlichen Kündigung und einer hilfsweise ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist sowie über eine Weiterbeschäftigung des Klägers.
Die Beklagte stützt ihre Kündigung auf behauptete rassistische Äußerungen des Klägers.
Wegen des erstinstanzlich unstreitigen und streitigen Parteivorbringens und der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gem. § 69 Abs. 2, 3 Satz 1 ArbGG auf den ausführlichen Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Urteils Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht stellte mit Urteil vom 7. Februar 2019 fest, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht durch die streitigen Kündigungen der Beklagten vom 12. Juni 2018 aufgelöst wurde. Die Beklagte wurde zur Weiterbeschäftigung des Klägers bis zum rechtskräftigen Abschluss dieses Verfahrens verurteilt. Das Arbeitsgericht ließ dahinstehen, ob der Kläger wegen einer behaupteten Medikamentenüberdosierung noch steuerungsfähig war und ob der Kläger deswegen die Kündigungsvorwürfe mit Nichtmehrwissen hat bestreiten können. Es unterstellte den Beklagtenvortrag zum Kündigungsgrund als zutreffend. Das Arbeitsgericht hielt die Äußerungen des Klägers als grundsätzlich geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Im Rahmen der Interessenabwägung hielt das Arbeitsgericht die Kündigungen jedoch für unverhältnismäßig. Die Beklagte hätte u.a. angesichts der langen beanstandungsfreien Beschäftigungsdauer, seiner Schwerbehinderteneigenschaft, seines tariflichen Altersschutzes, seiner Entschuldigung und der Erstmaligkeit des Fehlverhaltens vor Ausspruch einer Kündigung vorrangig abgemahnt werden müssen.
Dieses Urteil wurde der Beklagten am 25. Februar 2019 zugestellt. Hiergegen richtet sich die vorliegende Berufung der Beklagten, die am 11. März 2019 beim Landesarbeitsgericht einging und innerhalb der bis 27. Mai 2019 verlängerten Begründungsfrist am 27. Mai 2019 begründet wurde.
Die Beklagte beanstandet die Interessenabwägung des Arbeitsgerichts als rechtsfehlerhaft.
Sie meint, das Arbeitsgericht habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Äußerungen des Klägers nicht nur rassistisch und ausländerfeindlich gewesen seien. Vielmehr zeuge die Wortwahl des Klägers ("Die elendigen Stinker, die stinken wie ein Tier, dieses Dreckspack würde ich vom Boot treten und wenn sie mir zu nahe kommen die Knarre ziehen", "Hier muss ja ein Nest sein von diesen Scheiß-Negern. Die sollte man im Meer versenken, die stinken ja schon von weitem.") von einer tiefen Menschen- und Lebensverachtung.
Sie meint, die Vorfälle in der Umkleidekabine und an der Stempeluhr könnten angesichts der zeitlichen Zäsur, wegen des Wechsels der Örtlichkeit und wegen des unterschiedlichen Adressaten- und Zuhörerkreises nicht einheitlich betrachtet werden.
Sie meint, es mache keinen Unterschied, ob die dunkelhäutigen Mitarbeiter der Fremdfirmen, deren Erscheinen Anlass für die Äußerungen des Klägers gewesen sei, die Äußerungen verstanden haben. Entscheidend sei, dass diese Äußerungen öffentlich getätigt wurden und von den Kollegen zur Kenntnis genommen wurden. Mit einer Kenntnisnahme der betroffenen Fremdarbeitskräfte habe der Kläger zumindest rechnen müssen. Unmaßgeblich sei, dass die Äußerungen nicht zugleich noch einen direkten Bezug zum Nationalsozialismus gehabt haben. Dies ändere nichts an deren menschenverachtenden Charakter.
Was der Kläger mit dem gestischen "Knarre ziehen" zum Ausdruck bringen wollte, sei in Zusammenschau mit seinen Äußerungen erkennbar gewesen. Der Bezug zu den vorbeigehenden dunkelhäutigen Mitarbeitern der Fremdfirmen sei ohne Weiteres herstellbar gewesen.
Die Entschuldigung des Klägers im Anhörungstermin vor dem Integrationsamt sei ohne Bedeutung, so lange sich der Kläger auf Nichtmehrwissen berufe.
Die Nachtschichtarbeit sei kein für den Kläger entlastendes Moment. Der Kläger sei Nachtschichtarbeit gewöhnt.
Die Beklagte meint, die Äußerungen des Klägers beim Anhörungsgespräch am 17. Mai 2018 seien nicht einer situativen Überforderung geschuldet gewesen, sondern seien vielmehr ein weiterer Ausdruck seiner rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung. Er habe nicht nur zur Rechtfertigung seiner (von ihm im Übrigen bestrittenen) Äußerungen ein Erlebnis eines Übergriffs von "Schwarzen" gegenüber (s)einer Frau in der S-Bahn erfunden, sondern Menschen mit dunklerer Hautfarbe zugleich noch als "Bande" bezeichnet. Auf Vorhalt der Kündigungsvorwürfe habe der Kläger auch nicht schamvoll und verunsichert reagiert, sondern frech und selbstbewusst.
Die Beklagte beantragt:
Das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 07.02.2019, Az. 11 Ca 3994/18, wird abgeändert. Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens.
Insbesondere behauptet er weiterhin eine durch Medikamentenüberdosierung bedingte Nichterinnerung, weshalb er die Kündigungsvorwürfe weiterhin mit Nichtmehrwissen bestreite.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird gem. § 64 Abs. 7 ArbGG iVm. § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und begründete und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.
I.
Das Arbeitsgericht hat zumindest im Ergebnis zu Recht der gegen die außerordentliche Kündigung vom 12. Juni 2018 gerichteten Kündigungsschutzklage des Klägers stattgegeben.
Die außerordentliche Kündigung ist nicht gem. § 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt.
1. Gem. § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht. Ein wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB ist nur gegeben, wenn das Ergebnis dieser Gesamtwürdigung die Feststellung der Unzumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auch nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist ist. Bei einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer ist dabei auf die "fiktive" Kündigungsfrist abzustellen (BAG 9. Juni 2011 - 2 AZR 381/10 -; BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 -).
2. Der Kläger hat ein Fehlverhalten begangen, das dem Grunde nach geeignet ist, eineaußerordentliche Kündigung zu rechtfertigen.
a) Grobe Beleidigungen von Arbeitskollegen, die nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung für den Betroffenen bedeuten, sind grundsätzlich geeignet, einen eine außerordentliche Kündigung rechtfertigenden Grund darzustellen (BAG 27. September 2012 - 2 AZR 646/11 -). Es handelt sich hierbei um einen gewichtigen Verstoß gegen die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des Arbeitgebers (BAG 10. Dezember 2009 - 2 AZR 534/08 -). Entsprechendes gilt für das Äußern ausländerfeindlicher oder rassistischer Parolen, insbesondere dann, wenn sie volksverhetzenden Charakter haben (LAG Baden-Württemberg 25. März 2009 - 2 Sa 94/08 -).
b) Der Kläger hat solche Pflichtenverstöße begangen.
aa) Der Kläger hat nach der Darstellung der Beklagten am 4. Mai 2018 am Ende der Nachtschicht im Umkleideraum beim Eintreten mehrerer dunkelhäutiger Mitarbeiter einer Fremdfirma geäußert: "Die elendigen Stinker, die stinken wie ein Tier, dieses Dreckspack würde ich vom Boot treten und wenn sie mir zu nahe kommen die Knarre ziehen". Dabei ahmte er gestisch das Durchladen einer Waffe nach. Als wenige Minuten später der Kläger nach dem Umziehen an der Stempeluhr stand und wiederum eine Gruppe dunkelhäutiger Mitarbeiter einer Fremdfirma passierte, äußerte der Kläger: "Hier muss ja ein Nest sein von diesen Scheiß-Negern. Die sollte man im Meer versenken, die stinken ja schon von weitem".
bb) Dieser Sachverhalt gilt gem. § 138 Abs. 3, 4 ZPO als zugestanden. Der Kläger konnte die Behauptungen der Beklagten nicht zulässig mit Nichtmehrwissen bestreiten.
(1) Nach § 138 Abs. 4 ZPO ist eine Erklärung mit Nichtwissen nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlung der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind. Jedoch fordert der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 GG iVm. Art. 2 Abs. 1 GG und dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip ein Ausmaß an rechtlichem Gehör, das sachgemäß ist. Es muss einer Prozesspartei möglich sein, Tatsachen, die sie zum Zeitpunkt ihres Prozessvortrages nicht mehr weiß und auch nicht zumutbar durch Nachforschungen feststellen kann, mit Nichtmehrwissen zu bestreiten (BAG 20. August 2014 - 7 AZR 924/12 -). Dass die Partei, die sich auf ein solches Nichtmehrwissen beruft, auch tatsächlich nicht mehr in der Lage ist, sich auf den Prozessvortrag des Gegners einzulassen, ist von dieser aber zumindest überprüfbar darzulegen. Die Behauptung ist nur beachtlich, wenn sie glaubhaft ist (BGH 10. Oktober 1994 - II ZR 95/93 -). Hierzu sind Feststellungen zu treffen (BGH 19. April 2001 - I ZR 238/98 -)
(2) An einer solchen überprüfbaren Darlegung des Nichtmehrwissens durch den Kläger fehlt es jedoch.
Der Kläger führt seine Nichterinnerung auf die Einnahme des Medikaments O. zurück. Er trägt jedoch selbst vor, nicht zu wissen, ob er dieses Medikament überhaupt überdosiert eingenommen hat. Er schilderte, dass er üblicherweise bereits in der Pause vor Nachtschichtende dusche, weil zu dieser Zeit die Duschen nicht so voll seien. Üblicherweise nehme er die Tablette (150 mg) vor dem Duschen. Der Kläger habe aber am 4. Mai 2018 nach dem Duschen gemeint, seine Tabletteneinnahme vor dem Duschen vergessen zu haben, weshalb er eine Tablette nach dem Duschen eingenommen habe. Lediglich aus seiner behaupteten Nichterinnerung will er rückschließen, dass er wohl doch versehentlich zwei Tabletten à 150 mg eingenommen haben müsse. Der Kläger verfolgt also eine Zirkelargumentation. Er will aus der (bestrittenen) Nichterinnerung auf eine doppelte Dosierung (= Überdosierung) rückschließen, die wiederum die Nichterinnerung als Folge haben soll. Eine solche Argumentation wäre aber keiner Tatsachenüberprüfung zugänglich. Einem etwaigen Sachverständigen könnten keine Tatsachenanknüpfungspunkte vorgegeben werden, aufgrund derer er eine sachverständige Überprüfung vornehmen könnte. Dem Sachverständigen könnte nicht vorgegeben werden, dass der Kläger tatsächlich 300 mg O. eingenommen hat zur Begutachtung, ob ein Gedächtnisverlust eine Folge hiervon sein könnte. Dem Sachverständigen könnte aber auch nicht vorgegeben werden, dass der Kläger einen Gedächtnisverlust hatte zur Überprüfung, ob dies auf eine Überdosierung von O. rückführbar sein könnte.
Hinzu kommt, dass Gedächtnisverlust, selbst bei Überdosierung, auf dem Beipackzettel nicht als Nebenwirkung beschrieben ist.
Die (unterstellte) Einnahme von 300 mg O. wäre im Übrigen auch keine Überdosierung, sondern die gem. Beipackzettel mögliche Höchstdosierung, wenngleich einzuräumen ist, dass diese Dosierung ausweislich des Beipackzettels nicht auf einmal eingenommen werden sollte, sondern verteilt auf dreimal täglich 100 mg.
Gegen einen Gedächtnisverlust spricht im Übrigen, dass der Kläger sich beim Personalgespräch am 17. Mai 2018 hierauf nicht berufen hat, sondern vielmehr die Vorwürfe bis auf die eingeräumte Äußerung "hier muss es ein Nest geben" bestreitend damit gekontert hat, dass er der Beklagten einen erfundenen Vorfall mit (s)einer Frau in der S-Bahn einführte, der der Grund sei, weshalb er "mit denen" ein Problem habe. Ein bloß teilweises Erinnern bei Nichterinnerung im Übrigen erscheint jedoch ausgeschlossen.
Es erschließt sich zudem nicht, weshalb der Kläger im Anhörungsgespräch am 17. Mai 2018 einräumte, dass es ein Scheiß gewesen sei, den er gesagt habe, wenn er sich an seine Äußerung gar nicht erinnern konnte.
cc) Diese Tatsachenfeststellung zugrunde gelegt, liegt offenkundig eine grobe Beleidigung der anwesenden dunkelhäutigen Fremdfirmenmitarbeiter vor mit rassistischem und menschenverachtendem Charakter. Außerdem stellen die Aussagen vor der anwesenden Betriebsöffentlichkeit grob pflichtwidrige Hetzreden dar.
dd) Die Äußerungen waren erkennbar nicht durch die Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt. Bei Formalbeleidigungen und Schmähkritik hat die Meinungsfreiheit regelmäßig zurückzutreten (BAG 18. Dezember 2014 - 2 AZR 265/14 -). Der Kläger beruft sich hierauf auch nicht.
3. Die außerordentliche Kündigung erweist sich jedoch unter Berücksichtigung der gebotenen umfassenden Interessenabwägung als nicht gerechtfertigt. Sie ist unverhältnismäßig. Eine ordentliche Kündigung (wenn sie nicht tariflich ausgeschlossen gewesen wäre) wäre als milderes Mittel vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung ausreichend gewesen.
a) Bei der Prüfung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der - fiktiven - Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein "schonenderes" Gestaltungsmittel - etwa Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung - gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses - zu erreichen. Der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung insbesondere hinsichtlich einer möglichen Wiederholungsgefahr von Bedeutung. Je höher er ist, desto größer ist diese (BAG 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 -).
b) Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, ergibt folgendes Bild:
aa) Der Beklagten ist zuzustimmen, dass es sich um einen besonders groben Pflichtenverstoß des Klägers handelte. Die Äußerungen des Klägers waren nicht nur rassistisch ("stinkende Neger", "Scheiß-Neger", "Dreckspack"), sondern auch zutiefst menschenfeindlich und menschenverachtend, zumal der Gruppe der Schwarzen letztlich als vermeintlich minderwertiger Rasse das Lebensrecht abgesprochen wurde. Aus dieser Minderwertigkeit leitete der Kläger zumindest verbal unter offenkundiger Bezugnahme auf die damals aktuelle Flüchtlingssituation auf dem Mittelmeer das Recht ab, farbige Menschen "vom Boot (...) treten", "im Meer (...) versenken" bzw. mit der "Knarre" töten zu können. Eine solche Missachtung der Menschenwürde kann die Beklagte in ihrem Betrieb nicht dulden. Die Notwendigkeit, ein solches Verhalten zu sanktionieren und Wiederholungen vorzubeugen, drängt sich auf. Dies zumal die Stoßrichtung der Äußerungen in zwei Richtungen zielte. Zum einen sollten die vorbeikommenden dunkelhäutigen Fremdfirmenmitarbeiter abwertend beleidigt werden, wobei es nicht darauf ankommt, ob diese die Äußerungen akustisch und auch sprachlich verstanden. Zum anderen wollte der Kläger seine Äußerung erkennbar im "Meinungskampf" gegenüber der anwesenden übrigen Kollegenschaft verwenden, also in hetzerischer Weise die geäußerte menschenverachtende Gesinnung im Kollegenkreis weiterverbreiten. Dies ist eine erhebliche Störung des Betriebsfriedens.
Die Beklagte hat auch recht, dass die Vorfälle in der Umkleidekabine und an der Stempeluhr nicht als einheitlicher Vorgang angesehen werden können. Die Vorfälle fanden zeitlich versetzt an unterschiedlichen Örtlichkeiten und gegenüber unterschiedlichem Publikum und Adressatenkreis statt.
Auch das Nachverhalten des Klägers im Rahmen des Anhörungstermins am 17. Mai 2018 lässt nicht unbedingt auf eine fehlende Wiederholungsgefahr rückschließen. Anstatt Reue zu zeigen, ging der Kläger zu einem rechtfertigenden "Gegenangriff" über unter Nutzung desselben rassistischen Musters, welches bereits dem Kündigungsgrund zugrunde lag. Er erfand einen Übergriff einer "Bande" "Schwarzer" in der S-Bahn gegenüber (s)einer Frau, welcher Anlass gewesen sein soll, weshalb er "mit denen" ein Problem habe. Einen eigenen rassistischen Übergriff aber mit einer erfundenen Geschichte unter Nutzung rassistischer Vorurteile zu begründen, ist schon besonders perfide. Es mag sein, dass der Kläger angesichts der Konfrontation mit dem Kündigungsgrund unter Stress stand. Eine solche Lügengeschichte als Rechtfertigung einzusetzen, bedingt aber auch ein entsprechend vorgeprägtes Weltbild.
Die Entschuldigung, die der Kläger im Anhörungstermin vor dem Integrationsamt äußerte, war jedenfalls keine solche Entschuldigung, die aus einer unmittelbaren Einsicht in das Fehlverhalten resultierte, wie sie z.B. der Entscheidung des BAG vom 20. November 2014 (2 AZR 651/13) zugrunde lag.
Die (selbst erstmalige) Hinnahme einer solch schweren Pflichtverletzung war der Beklagten nach objektiven Maßstäben unzumutbar und offensichtlich - und auch für den Kläger erkennbar - ausgeschlossen, weshalb jedenfalls eine vorherige Abmahnung entbehrlich war (BAG 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 -).
bb) Auf der anderen Seite ist jedoch zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass dieser bis zu den streitgegenständlichen Kündigungsvorfällen fast 34 Jahre beanstandungsfrei bei der Beklagten seine Arbeit verrichtete, stets in Zusammenarbeit mit Kollegen unterschiedlichster Nationalitäten, ohne dass jemals rassistische oder ausländerfeindliche Ausfälle bekannt geworden wären.
Auch wenn die beiden Kündigungsvorfälle keinen einmaligen einheitlichen Vorgang darstellten, so waren sie zumindest erstmalige Fehlverhalten.
Zu berücksichtigen ist zudem, dass der Kläger als schwerbehinderter Mensch selbst zu einer schutzwürdigen Gruppe gehört und durch den Verlust, zumal einen sofortigen Verlust des Arbeitsplatzes besonders schwer betroffen wäre. Die Wahrscheinlichkeit des Erwerbs einer baldigen oder gar unmittelbaren Anschlussbeschäftigung dürfte eher gering sein.
Dies wird auch noch verstärkt durch das Alter des Klägers. Der Kläger war zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs bereits 54 Jahre alt. Dies ist ein Alter, welchem auch die Tarifvertragsparteien durch die Einräumung einer Alterssicherung besondere Schutzbedürftigkeit einräumen.
Im Vergleich zu den Parallelfällen 17 Sa 3/19 und 3 Sa 30/19 ist der Fall des Klägers dadurch gekennzeichnet, dass hier die Vertragsverstöße nicht auf einer bereits länger währenden Belästigungshistorie beruhen, somit wirklich punktuell waren.
Das Antwortverhalten des Klägers in der mündlichen Verhandlung hinterließ bei der Kammer den Eindruck einer eher einfacheren Persönlichkeit, welche fehlgeleitet durch die durch populistische Tabubrüche vergiftete Flüchtlingsdebatte unreflektiert "dummes Zeug hinterherschwätzte", ohne den menschenverachtenden Kern seiner Aussagen zu erkennen. Als er dies von der Beklagten vorgehalten erhielt, brachte er nicht die Größe auf, dies unumwunden einzuräumen, sondern verstrickte sich in Widersprüchlichkeiten und Unwahrheiten. Dennoch schaffte er es, gegenüber der Beklagten zu bekunden und einzuräumen, dass das nicht wieder vorkommen solle, das sei ein Scheiß gewesen, den er da gesagt habe. Ob dies aus Einsicht erfolgte oder aus Angst vor Konsequenzen, mag dahinstehen. Eine Wiederholungsgefahr sieht die Kammer angesichts dieser kleinlauten Ergänzung jedenfalls bis zum Ablauf einer (fiktiven) Kündigungsfrist nicht.
Entsprechend kann die Entschuldigung des Klägers im Anhörungstermin vor dem Integrationsamt gewertet werden. Selbst wenn diese nur zur Abwendung der Konsequenzen des Arbeitgebers abgegeben worden sein sollte, lässt diese die Einsicht erkennen, dass die Beklagte ein solches Verhalten nicht dulden wolle.
Unter Berücksichtigung dieser Gesamtumstände erachtet es die Kammer als (gerade noch) zumutbar, den Kläger jedenfalls noch bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Quartalsende weiter zu beschäftigen.
4. Auf die Frage der ordnungsgemäßen Beteiligung des Betriebsrates und der Schwerbehindertenvertretung kommt es somit nicht mehr an.
II.
Auch die hilfsweise außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist vermochte das Arbeitsverhältnis nicht zu beenden.
1. Die Parteien sind kraft Organisationszugehörigkeit beide tarifgebunden gem. §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG.
Der Kläger ist gem. § 4.4 MTV ordentlich nicht kündbar. Der Kläger hat das 53. Lebensjahr vollendet und gehört dem Betrieb schon mehr als 30 Jahre an. Er kann deshalb nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.
2. Eine außerordentliche Kündigung gegenüber tariflich nicht ordentlich kündbaren Personen ist zunächst bei Vorliegen betrieblicher Gründe für zulässig erachtet worden, obwohl es dem Arbeitgeber zumutbar gewesen wäre, die ordentliche Kündigungsfrist einzuhalten. Führt gerade der Ausschluss der ordentlichen Kündigung zu einer unzumutbaren Belastung des Arbeitgebers, weil dieser den Arbeitnehmer zwar nicht mehr beschäftigen kann, aber für lange Zeit zur Zahlung des vereinbarten Entgelts verpflichtet bleibt, kann ausnahmsweise auch eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt sein. In diesem Fall ist zur Vermeidung einer Benachteiligung der durch den Ausschluss der ordentlichen Kündigung gerade besonders geschützten Arbeitnehmer zwingend einer der ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende Auslauffrist einzuhalten. Ähnlich ist die Interessenlage bei einer krankheitsbedingten Kündigung. Ist eine ordentliche Kündigung möglich, ist dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist regelmäßig zumutbar; eine außerordentliche Kündigung - mit notwendiger Auslauffrist - kommt in der Regel nur dann in Betracht, wenn eine ordentliche Kündigung einzel- und tarifvertraglich ausgeschlossen ist. Anders liegen die Dinge bei einer auf Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers gestützten Kündigung. Für die Reaktion auf Pflichtverstöße des Arbeitnehmers besteht kein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen ordentlicher und außerordentlicher Kündigung. Eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB ist insoweit nicht etwa grundsätzlich ausgeschlossen. Vielmehr bildet die Schwere der Pflichtverletzung - unter Berücksichtigung aller sonstigen relevanten Einzelfallumstände - den Maßstab für die Kündigung, ob eine ordentliche, eine außerordentliche oder gar keine Kündigung gerechtfertigt ist. Ist die Schwelle zum wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB überschritten, ist eine außerordentliche - fristlose - Kündigung zulässig, ohne dass es darauf ankäme, ob die ordentliche Kündigung ausgeschlossen ist oder nicht. Ist die Schwelle zum wichtigen Grund nicht erreicht, kann eine ordentliche Kündigung gerechtfertigt sein. Gegenüber einem ordentlich nicht kündbaren Arbeitnehmer ist diese aber ausgeschlossen. Pflichtverletzungen, die nicht zur sofortigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses berechtigen, sollen eine (ordentliche) Kündigung gerade nicht rechtfertigen können (BAG 21. Juni 2012 - 2 AZR 343/11 -). Dies schließt zwar eine außerordentliche Auslauffristkündigung nicht grundsätzlich aus. Maßgeblich ist aber auch für diese Auslauffristkündigung das Vorliegen eines wichtigen Grundes iSv. § 626 Abs. 1 BGB (BAG 13. Mai 2015 - 2 AZR 531/14 -). Eine Auslauffristkündigung kann demnach nicht auf einen mindergewichtigen Grund gestützt werden, der ohne die tarifliche Alterssicherung eigentlich nur eine ordentliche Kündigung hätte rechtfertigen können.
3. Da es der Beklagten aber - wie oben dargestellt - gerade nicht unzumutbar ist, jedenfalls die (fiktive) ordentliche Kündigungsfrist abzuwarten, scheidet auch die Auslauffristkündigung aus. Die fehlende Kündigungsmöglichkeit des Klägers ergibt sich dann schlicht aus der tariflichen Alterssicherung gem. § 4.4 MTV.
III.
Wegen des Obsiegens des Klägers mit den Kündigungsschutzanträgen überwiegt sein Interesse an einer Weiterbeschäftigung wieder gegenüber dem gegenläufigen Interesse der Beklagten. Die Beklagte war demnach zur Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu verurteilen.
IV. Nebenentscheidungen
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
2. Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor.
Verkündet am 15.01.2020